Kein anderer Stadtteil oder Landkreis in Westdeutschland verzeichnet nur annähernd so hohe Werte für die Alternative für Deutschland. Das Ergebnis mag erschüttern, überraschen sollte es nicht. Denn schon bei vorherigen Wahlen standen die Parteien des rechten Spektrums hoch in der Gunst der Wähler aus Leherheide-West. Bei den Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung 2023 haben AfD und Bürger in Wut (nun Bündnis Deutschland, d. Red.) dort Rekordwerte eingefahren. Zusammen kamen sie in einem der Bezirke sogar auf mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen. Was bringt die Menschen dazu, bei diesen Parteien ihr Kreuz zu machen? Bei Populisten und - im Falle der AfD - in Teilen Rechtsextremisten. Wir waren in Leherheide-West und haben versucht, die Beweggründe der Menschen zu verstehen.
„Wir reden übers Wetter, nicht über Politik“
Am Mittwochvormittag ist Wochenmarkt im Zentrum von Leherheide-West. Der Parkplatz gegenüber, wo sich Edeka, Aldi und die Polizeiwache befinden, ist rappelvoll. Die Menschen schleppen Einkaufstüten, bleiben stehen für einen Schnack, obwohl es bei neun Grad noch schnell kalt wird. Marina Milkin am Obststand ist eine der wenigen Wochenmarkt-Verkäuferinnen, die selbst aus Leherheide kommt. Die 51-Jährige spricht Deutsch mit leicht osteuropäischer Färbung - wie so viele hier.
Marina Milkin liebt „ihren“ Wochenmarkt. „Wir reden hier über die Gesundheit, wir reden übers Wetter, aber nicht über Politik. Jeder soll seine Meinung haben“, sagt sie mit einem Lächeln, während sie Äpfel für eine Kundin in die Tüte legt. Was sie aber mitbekommen habe: Viele beklagten, dass die Lebensmittel so teuer geworden seien, zum Beispiel bei Einkäufen im Supermarkt. Das mache die Menschen wütend. „Lebensmittel - das ist das Schlimmste, die musst du kaufen, für die Kinder, alles andere kannst du weglassen“, sagt die 51-Jährige. Sie lebt hier, sie kennt die Sorgen und Nöte der Menschen.
Schmale Rente trotz lebenslanger Schufterei
Am Rande des Wochenmarktes erstrecken sich weitläufige, gemähte Rasenflächen im satten Mai-Grün. Weiter hinten „wachsen“ die typischen Gewoba-Wohnblocks aus den 60er Jahren in die Höhe, wie man sie auch in anderen Bremerhavener Stadtteilen findet. Bis auf die besprühten Bänke wirkt die Szene idyllisch. Zwei Frauen unterhalten sich nach ihrem Einkauf unweit des Wochenmarktes auf einer Bank. Sie sind beide Mitte 60, haben ihr Leben lang im Gesundheitsbereich geschuftet. „46 Jahre lang in der Pflege“, zählt eine von ihnen zusammen. Auch sie haben einen osteuropäischen Akzent.
Sie sind nicht unzufrieden mit ihrem Leben, auch nicht mit dem Stadtteil an sich. Doch: Ihre Rente sei trotz all der Arbeit so gering, dass sie überlegen müssten, sich wieder etwas dazuzuverdienen. Ihr Sohn arbeite im Hafen und habe Kinder und ein Haus, erzählt eine von ihnen - der mache sich große Sorgen um die Zukunft. Mit dem Hafen gehe es ja bergab. Und auch die beiden Damen kommen auf die Heizungsdebatte und das mögliche Verbot von Öl- und Gasheizungen zu sprechen. Das mache ihnen Angst, sagen sie. Und Wohnungen seien in Leherheide kaum noch zu finden. Wen sie gewählt haben, wollen sie nicht verraten.
,,Das Polizeirevier sollte besser besetzt sein“
Kaum eine Gehminute entfernt vom Wochenmarkt stehen drei Nachbarn an einer Auffahrt. Die Reihenhäuser in dieser Wohnstraße sind aus den 1930er Jahren. Die drei Alt-Leherheider halten es für gefährlich, dass so viele Menschen die AfD und Bürger in Wut gewählt haben. Unter den Wählern seien sicher viele Hafenarbeiter, mutmaßen sie. Wo soll das noch hinführen?
Die Menschen seien sauer, würden aber die Folgen nicht erahnen, die es haben werde, wenn Parteien wie AfD und Bürger in Wut einmal die Macht in der Stadt hätten. Das habe man in Deutschland schon einmal erlebt. Die drei Nachbarn selbst sind aber mit der Politik in Bremerhaven und in Berlin ebenfalls nicht zufrieden - auch hier macht die Heizungsdebatte Sorgen. Es geht dabei auch um die notwendigen Investitionen in Wärmepumpen. „Wir bekommen so einen Kredit gar nicht, und wir wollen das auch nicht“, sagen sie. Auch öffentliche Sicherheit und Ordnung beschäftigen die Anwohner: Das Polizeirevier Leherheide sei zu selten besetzt, meint das Trio. Es gebe ja immer mal wieder „Krawalleinsätze“ in Leherheide - die Beamten müssten dann aus Lehe anrücken. „Man hört hier manchmal das Ballern von echten Knarren.“ Sie haben schon Mündungsfeuer von Handwaffen in der Nacht blitzen sehen. „Wir sind doch nicht im Wilden Westen.“
Im Klassenzimmer ist der Rechtsruck nicht zu spüren
Zurück an den Mecklenburger Weg. Neben der Polizeistation eilt eine Frau entlang, die erklärt, dass sie im Cuxland wohne. Sie sei aber Lehrerin an einer Leherheider Schule. Sie habe gehört, dass die Wahlhelfer bei der Auszählung ganz schön erschrocken gewesen seien. Sie selbst habe hier keine besondere Unzufriedenheit wahrgenommen. „In den Klassen nicht, und auch bei den Eltern nicht.“ Man spreche im schulischen Kontext aber auch nur sehr selten über Politik, meint die Frau und hastet weiter. Wie so viele Menschen möchte auch sie ihren Namen nicht in der Zeitung lesen.
,,Wir werden von Flüchtlingen überschwemmt“
Die letzte Begegnung an diesem Vormittag: ein 51-jähriger Leherheider. Seine Begleiter haben den Mecklenburger Weg schon überquert und fordern ihn auf, sich zu beeilen. Auch deshalb winkt der Mann zuerst ab. Mit dem Fernsehteam, das kürzlich durch den Stadtteil gegangen sei, habe er auch nicht gesprochen. Dann kommt er doch ins Reden. Ja, er habe Bürger in Wut gewählt, sei auch mit einem ihrer Repräsentanten befreundet - und dazu stehe er. Denn es laufe einiges falsch in Deutschland, man werde inzwischen von Flüchtlingen überschwemmt. „Mir hat ein Polizist erzählt, dass es in Bremerhaven vor 2015 keine Gruppenvergewaltigungen gegeben hat. Jetzt gibt es sie“, sagt er. Der 51-Jährige redet sich in Rage. Sein Blick ist ernst, seine Überzeugung scheint unerschütterlich - auch wenn die Polizei nach eigenen Angaben von solchen Fällen keine Kenntnis hat. Immer wieder kommt er auf Gewaltverbrechen zu sprechen, in denen Asylbewerber und Migranten tatverdächtig sind. „Diese müssten doch abgeschoben werden.“ Doch es passiere nichts.
Das zweite Thema, das ihn ärgert, seien die Grünen „mit ihrem Klimawahnsinn“ und dem Gendern. „Wir haben doch wirklich größere Probleme“, meint der Mann und dreht sich ab. Seine Begleiter warten. Er muss weiter. Die Wochenmarkt-Standbesitzer bauen ab. Der Himmel hat sich zugezogen, leichter Regen setzt ein.
Dieser Artikel erschien zunächst am 18. Mai 2023 und wurde am 13. Juni 2024 aktualisiert.