Mein Skiurlaub, deine Solaranlage, sein bevorzugter Lieferdienst - heute trägt jedes Detail unseres Lebens eine moralische Dimension. Jede Handlung wird bewertet, jedes Verhalten akribisch unter die Lupe genommen.
Ob Gemüse in Plastikverpackung, ein jüngerer Lebenspartner, die Freundin mit 25 Winterjacken, die sich gleichzeitig eine Klimaanlage leistet, oder die Innenministerin, die nach Mallorca fliegt: Alles wird hyperpolitisch diskutiert.
Wann begann es eigentlich, dass Freunde und Fremde einander ständig bewerten und jede private Handlung politisch interpretieren? Die Frequenz des Duschens, die Wahl des Verkehrsmittels, der Kauf von Schnittblumen aus Entwicklungsländern - nichts bleibt unkommentiert.
Heute ist alles politisch aufgeladen - selbst das, was eigentlich privat ist. Doch diese Überpolitisierung führt zur Verwischung der Grenzen: Eine Kreuzfahrt wird auf eine Stufe gestellt mit gedruckten Büchern oder dem täglichen Duschen.
Über allem schwebt die rhetorische Frage: „Und, wie rettest du die Welt?“ Dabei zeigt jeder mit dem Finger auf andere, anstatt sich an die eigene Nase zu fassen. Denn vegane Ernährung ist kein Freifahrtschein für das Autofahren oder den Konsum von Modeartikeln aus Billigproduktionsländern. Und doch versuchen manche, durch klimafreundliches Verhalten in einem Bereich das schlechte Gewissen für klimaschädigendes Verhalten in einem anderen Bereich auszugleichen.
In einem moralisch überhitzten Diskurs, in dem immer „fünf nach zwölf“ herrscht und schnell Schuldige gefunden werden, stehen Bedeutendes und Banales gleichwertig nebeneinander - oft ohne klare Differenzierung.
Ich frage mich: „Gelten persönliche Widersprüche heute nicht mehr als menschlich, sondern als untragbar? Kann ein Mensch überhaupt unfehlbar sein?“