Sie wurden belogen. Als das Dorf Stuckenborstel bei Sottrum 1957 sein Gefallenendenkmal einweiht, würdigt es auch Franz Ernst Kurt Wulkau mit einem Gedenkstein. Viele Jahre noch kommt die Dorfgemeinschaft am Volkstrauertag dorthin, um seiner und der anderen Gefallenen beider Weltkriege zu gedenken. Was sie nicht weiß: Zum Zeitpunkt der Einweihung ist Wulkau nicht tot, sondern als mutmaßlicher NS-Kriegsverbrecher lediglich untergetaucht. 67 Jahre später soll Schluss sein mit dieser Würdigung.
Es ist eine befremdliche und bizarre Geschichte, die eintaucht in von Nationalsozialisten verübte Grausamkeit und Terror, die Bigamie genauso zum Bestandteil hat wie Blutbäder.
Eine Annäherung an den Fall
Am besten fängt man hinten an. Dort stehen Bürgermeister Hans-Jürgen Krahn und Erste Samtgemeinderätin Kerstin Wendt am Stuckenborsteler Denkmal mit der Inschrift „Neige Dich vor Tod und Tapferkeit“. Die Namen der Toten des II. Weltkriegs sind auf Steinen verewigt, die das Areal einrahmen. Viele Jahre konterkariert Wulkau den Gedenkspruch. Die Gemeinde Sottrum, deren Ortsteil Stuckenborstel ist, steht vor der Frage, wie sie ihre Erinnerungskultur an das III. Reich leben möchte. Erst im Februar sind im Ortskern Stolpersteine verlegt worden, die an die jüdische Familie Moses erinnern. Deren Mitglieder wurden von Nazis vertrieben und ermordet. Das Gedenken der Opfer ist das eine. Aber wie geht man mit Tätern um?
Der Gemeinderat soll am Montag eine Entscheidung treffen. Man möchte kurzen Prozess machen und den Stein mit der Aufschrift „Kurt Wulkau – verm. 1945“ entfernen und vernichten. Da waren sich die Ratsfraktionen informell schnell einig, erläutert Krahn. Die entstehende Lücke soll erhalten bleiben. Nachdem Wulkaus wahre Lebensgeschichte belegt war, habe man die Familien informiert, berichtet der Bürgermeister. „Wichtig war uns, schnell zu handeln.“ Bereits am nächsten Volkstrauertag soll der Stein weg sein.
Auf Wulkaus Stein steht nichts von seinen Taten. Nicht, dass er mutmaßlich Hunderte Menschen selbst erschossen hat, mindestens aber war er beteiligt an den von Einsatzgruppen begangenen Massenmorden hinter der Ostfront. Dort steht nicht, dass er später untergetaucht war, um sich nicht verantworten zu müssen. Weder vor einem Gericht in Deutschland noch in Polen, wo nach dem Krieg vielen Tätern die Todesstrafe drohte. Dort steht ebenso wenig, dass er noch bis 1978 in Achim lebte.
Wer ist Franz Ernst Kurt Wulkau?
Ein kurzer Abriss von Wulkaus Steckbrief: Er wird 1906 in Berlin-Wannsee geboren, heiratet 1933 eine Stuckenborstelerin, lebt mit ihr in Bremen, wo er in den Polizeidienst eintritt. Er geht zur Gestapo, tritt der SS bei, wirkt nach Kriegsbeginn in Osteuropa in mobilen Einsatzkommandos mit, heiratet 1943 unter falschen Namen eine weitere Frau, lebt mit ihr ab 1946 in Achim-Baden, stirbt 1978.
Seine eigentliche Frau, inzwischen ins Stuckenborsteler Elternhaus zurückgekehrt, meldet ihn 1950 als vermisst, lässt ihn 1957 für tot erklären. In dem Jahr wird der Gedenkstein aufgestellt. Es war üblich, auch Angehörige von Dorfbewohnern zu berücksichtigen, die nicht von dort stammen.
Claudia Koppert hört im Frühjahr 2024, dass am Stuckenborsteler Ehrenmal möglicherweise ein Kriegsverbrecher gewürdigt wird. Die Autorin engagiert sich im jüdischen Museum Cohn-Scheune in Rotenburg, hat zur Sottrumer Familie Moses geforscht und die Stolpersteinverlegung unter anderem mit Vorträgen begleitet. Sie habe festgestellt, dass die Sottrumer interessiert sind am III. Reich und dessen Auswüchsen vor Ort, berichtet sie. „Es ist wichtig, dass Gedenken nicht allgemein, sondern mit konkreten Personen verknüpft ist.“
Solche Unmittelbarkeit fasziniert. „Geschichte ist auf einmal greifbar geworden“, sagt Kerstin Wendt. Deshalb berühre der Fall Wulkau die Leute.
Den Namen hatte Koppert mit dem Hinweis nicht. Sie recherchierte. Am Ende blieb nur Wulkau als Verdächtiger übrig. Wo er sich während des Krieges aufhielt und mit welchen Aufgaben er betraut war, lässt sich nachvollziehen. Unter anderem in seiner Bewerbung an den Kolonialdienst listet er sie zum Teil auf, Briefwechsel zeugen von regelmäßigem Kontakt mit dem Reichssicherheitshauptamt in Berlin. Koppert hat über Bundes- und Landesarchive Dokumente zu Wulkau zusammengetragen und der Forschungsliteratur gegenübergestellt.
Wulkau während des Krieges
Seinem Lebenslauf zufolge nimmt er am Einmarsch in Polen teil – als Mitglied einer Einsatzgruppe, die hinter der vorrückenden Wehrmacht Tausende Intellektuelle, Klerus-Angehörige und vor allem Juden ermordet. „An der Front waren die nie“, räumt Koppert mit der auf dem Stuckenborsteler Denkmal glorifizierten Tapferkeit auf. Anderthalb Jahre lang ist Wulkau Mitarbeiter des Kommandanten der Gestapo im südpolnischen Zakopane, die in einem Hotel Hunderte Menschen verhörte, folterte und tötete.
Ab Sommer 1941 ist er Teil einer mobilen Sicherheitspolizei-Truppe hinter der Frontlinie. Es ist das „Einsatzkommando z. b. V.“ – „zur besonderen Verwendung“, ein Euphemismus für die Durchführung von Massenmorden und vor allem die Erschießung von Juden. Wulkau wird Abteilungsleiter in der Sicherheitspolizei- und SD-Außenstelle Stanislau – heute das ukrainische Ivano-Frankiwsk.
Die Forschung zeigt: Die Dienststelle ist eine der brutalsten Mordeinheiten der Nazis. Lebten in Stanislau im Sommer 1941 an die 90 000 Juden, waren Ende 1942 fast alle ermordet. Der 12. Oktober 1941 geht als „Blutsonntag von Stanislau“ in die Geschichte ein. Auf dem jüdischen Friedhof erschießen Sicherheitspolizei und Hilfskräfte 10 000 bis 12 000 Männer, Frauen und Kinder.
Wulkau wird im Februar 1942 zum SS-Sturmscharführer (Stabsfeldwebel) befördert – in Anerkennung seines „zielbewussten und energischen Auftretens“ bei sicherheitspolizeilichen Einsätzen.
„Aufgrund der schwachen personellen Besetzung wird nahezu jeder Funktionär bei Großaktionen wie Razzien oder Judenerschießungen eingesetzt“, hat Koppert herausgefunden. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit greift Wulkau bei den Ermordungen selbst zur Waffe. Die Oberstaatsanwaltschaft Dortmund stellt 1964 fest: „Es ist davon auszugehen, dass diejenigen, welche etwa zwei Jahre in Stanislau blieben, eigenhändig etwa 1000 Juden getötet haben.“ Diese Staatsanwaltschaft strengt 1962 Ermittlungen gegen Wulkau an. Da er offiziell tot ist, stellt man sie ein. Das Abtauchen ist erfolgreich. Koppert: „Dank seiner Todeserklärung wurde er nie zur Verantwortung gezogen.“
22 Jahre in Achim untergetaucht
Nach dem Krieg lebt Wulkau als Kurt Ernst Franz Kurylak weiter. Er hat seine Vornamen neu angeordnet und einen neuen Nachnamen angenommen. Während in Stuckenborstel seiner gedacht wird, wohnt er unbehelligt in Achim-Baden, bis er 1978 im Bremer Krankenhaus St.-Joseph-Stift stirbt.
Ein ehemaliger Nachbar in Baden beschreibt ihn als jähzornigen Menschen mit wenig Kontakt zu den anderen. Zu ihren Söhnen seien Wulkau alias Kurylak und seine Frau sehr streng gewesen. Er soll häufig seinen Arbeitsplatz – Erzählungen nach auf dem Bau – gewechselt haben. Nein, von seiner wahren Vergangenheit habe man nichts gewusst.
„Irgendjemand wusste Bescheid“, sagt Koppert. Inwieweit Kurylak mit seiner Vergangenheit konfrontiert war, ist bislang eine der offenen Fragen. Ebenso, wie er nach Achim, in die unmittelbare Nähe seiner ersten Familie, gekommen ist und warum? Aber bereits 1980, zwei Jahre nach seinem Tod, meldet das Amtsgericht Achim Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Identität Kurylak an. Es lässt Nachforschungen anstellen, doch erst 15 Jahre später wird das zuständige Landgericht in Bremen seine Sterbeurkunde korrigieren. Über die Gründe für die falsche Identität notiert es nichts.
Zurück zum Ende
Nun stellt sich für Sottrum die Frage nach dem Umgang mit dem Stein. Für die Gemeinde steht fest: Er muss weg. Krahn betont das Einvernehmen der Parteien in dieser Sache, die am Montag besiegelt wird. Und damit ist es gut? Claudia Koppert ist überzeugt: Irgendeine Reaktion muss es geben. Die Gemeinschaft müsse ihren Weg finden, sagt sie. Wichtig sei aber, dass sie überhaupt darüber spricht. Das sei eine stärkere Haltung, als sich vorzumachen, dass nichts gewesen sei.
Nicht nur am Montagabend im Gemeinderat, sondern darüber hinaus.