Sie gehen vorüber, halten inne, treten näher - und lesen. Fotografieren. Schütteln den Kopf. Gehen weiter. Noch immer reagieren viele Menschen auf diesen einen, anderen, Quadratmeter des Theodor-Heuss-Platzes. Noch immer wird respektvoll stehen und hängen gelassen, was Unbekannte an Blumen, Gedenklichtern, kleinen Schrifttafeln am Gitter des Smidt-Denkmals deponieren.
Ein Quadratmeter öffentlicher Raum, der zu einer Art „Mahnwache“ geworden ist, für den ermordeten russischen Kreml-Kritiker Alexej Nawalny. Am 16. Februar erschütterte die Nachricht vom Tod des Oppositionellen im Straflager Putins die Welt. Am Mittag des 17. Februar, ein Samstag, haben spontan eine Handvoll Bremerhavener ganz privat eine Stunde lang dort am Theaterplatz - nur mit einem handgeschriebenen Plakat, einem Foto und einer Kerze - seiner gedacht. Haltung gezeigt.
Und damit offenbar den Nerv eines Teils dieser Stadtgesellschaft getroffen. Auch der einstige Große-Kirche-Pastor Dirk Scheider war dabei und steht bis heute dazu: „Eine gute, wichtige Geste, ein Signal für eine offene Wunde vieler hier lebender demokratisch gesinnter Menschen, auch aus Russland.“ Im Laufe der Tage und Wochen wuchs dieser Ort in nicht geahnter Eigendynamik zu einer mit Blumen und Fotos bestückten Nawalny-Gedenkstätte an - anonym brachten Menschen ihre Trauer, Verehrung zum Ausdruck.
Nichts wurde gefleddert, zerstört, verunglimpft. Auch noch drei Monate später nicht. Es ist weniger geworden, aber nicht weg. Jetzt erst berichtet mir eine ältere Dame, die selbst oft dort vorbei kommt, sie sei von Männern des Bürger- und Ordnungsamtes angesprochen worden, es habe eine Meldung wegen „Sachbeschädigung“ des Platzes gegeben, die Dinge müssten dort weg.
Sie wunderte sich, denn gar nichts hier ist beschädigt, aber nahm ihre Blumen wieder mit. Nun wiederum drei, vier Tage später sind andere Blumen dort, ewige Lichter, immer noch hängen Fotos und Sprüche dort. Und nun? Keiner weiß, wer dort was hinbringt.
Solange noch immer Menschen das Bedürfnis haben, auch in unserer Stadt einem Menschen die Ehre zu erweisen, der - obgleich kein Unschuldslamm - sein Leben ließ für seinen Kampf gegen die Diktatur, ist dieser Quadratmeter Theodor-Heuss-Platz für mich ein Ausrufungszeichen: Die Würde der Menschlichkeit ist unantastbar.